Vom Aufschwung vergessen

Veröffentlicht auf von Acher-Rench-Zeitung

Die Wirtschaft boomt, in Achern herrscht »Vollbeschäftigung« / Und was tun die Langzeitarbeitslosen?

In Achern ist die Arbeitslosenquote mit 2,2 Prozent so niedrig wie schon lange nicht mehr. Doch die Bilanz hat Schattenseiten. Der Jugendwahn in den Betrieben schließt ältere Arbeitnehmer systematisch aus. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist sogar gestiegen.

 

Sie hat als Buchhalterin gearbeitet, Bürojobs erledigt, im Notariat ausgeholfen, gewerkelt, geputzt – und zuletzt trotzdem keine Stelle mehr gefunden. Gabriele Jörgers Lebenslauf liest sich vorbildlich: Abitur, Berufsschule, Anstellungen in Handel und Verwaltung »Ich war mein ganzes Leben voll berufstätig«, sagt die Achernerin. »Der Einschnitt kam, als ich mit 41 Jahren noch einmal schwanger wurde.« Heute ist Gabriele Jörger 57 Jahre alt, bezieht Hartz IV und hangelt sich von einem Minijob zum nächsten – der Wirtschaftsboom rauscht einfach an ihr vorbei.
Geburt als Einschnitt
»Ich hatte damals nur eine befristete Stelle und hatte nach dem Mutterschutz deshalb kein Anrecht auf Wiedereinstellung«, berichtet Jörger, die schon nach dreimonatiger Babypause wieder ins Berufsleben einsteigen wollte. »Mein Ziel war eine Halbtagsstelle, um Beruf und Familie vereinbaren zu können«, sagt sie. »Ich habe insgesamt 80 Bewerbungen geschrieben, die alle wieder zurückkamen.« Die Begründungen seien immer die gleichen gewesen: »Man hat mich vertröstet oder gesagt, ich sei überqualifiziert.« Jörger dagegen vermutet: »Ich war denen einfach zu alt.«
Trotz der beruflichen Rückschläge hat Gabriele Jörger nicht aufgegeben. Ihr neuester Versuch: das Programm »Perspektive Fünfzig Plus« der Kommunalen Arbeitsförderung. »Zunächst dachte ich nur, das sei eine weitere sinnlose Maßnahme, die ich da machen muss«, erinnert sich die Arbeitslose. »Rückblickend war es aber eine ganz tolle Sache. Wir haben getöpfert und Kunstwerke erschaffen und uns ganz nebenbei vernetzt.«
Schwer vermittelbar
Die Kommunale Arbeitsförderung im Ortenaukreis betreut Langzeitarbeitslose, die oft nur schwer vermittelbar sind. Durch das Projekt für ältere Arbeitslose hätten immerhin 394 von 1525 Teilnehmern wieder in den Arbeitsmarkt vermittelt werden können, so Sprecherin Gabriele Schindler. Dieser Wert sei schon jetzt höher als das Gesamtziel, das man sich für 2010 gesetzt habe.
Dennoch profitieren Langzeitarbeitslose kaum von der guten Konjunktur. In Achern stagniert die Zahl bei 733 Langzeitarbeitslosen. Eine kostenlose Demografieberatung (• 07 81/805 93 41), die Arbeitgeber dazu motivieren sollen, Über-50-Jährige einzustellen, bleibt ungenutzt. »Schade«, findet Schindler, »denn gerade für mittelständische Unternehmen würde sich dieses kostenlose Angebot lohnen.« Wie groß der Jugendwahn in deutschen Betrieben ist, zeigt sich im Vergleich mit anderen Nationen: In der Bundesrepublik haben nur 33 Prozent der 60- bis 64-Jährigen einen Job – in Schweden fast doppelt so viele. Gabriele Jörger hat sich unterdessen mit ihrer Situation abgefunden. »Ich konzentriere mich voll und ganz auf meinen Tier-Gnadenhof, den ich ehrenamtlich betreibe«, sagt die 57-Jährige. Gute Chance, aus Hartz IV herauszufallen, hat sie außerdem – wenngleich sie nichts mit dem Beruf zu tun haben: Jörger will es noch einmal mit ihrem Ex-Mann versuchen. Dessen Einkommen wird dann mit ihrem verrechnet.

STATISTIK
Mehr Arbeit, aber nicht für alle
In Achern liegt die Arbeitslosenquote derzeit bei 2,2 Prozent – ein Wert, der als Vollbeschäftigung gilt. Im Oktober 2009 waren es noch 3,0 Prozent.
Der Ortenaukreis ist seit 2005 eine sogenannte Optionskommune: Bezieher des Arbeitslosengeldes I werden von der Arbeitsagentur betreut, Bezieher von Arbeitslosengeld II (»Hartz IV«) dagegen von der Kommunalen Arbeitsförderung. Gerade diese Personengruppe hat es auch im Aufschwung schwer, Arbeit zu finden.
Arbeitslose über 50 Jahren oder Eltern, die nach einer Auszeit in Teilzeit weiterarbeiten wollen, haben es deutlich schwerer, einen Job zu finden.

STICHWORT
Aufstocker: Arm trotz Arbeit
Im Ortenaukreis bekamen im Juni 2010 (letzter verfügbarer Wert) 3646 Personen einen Zuschuss, obwohl sie arbeiten. Ihr Verdienst reicht allerdings nicht zum Leben.
Diese »Aufstocker« machen 28 Prozent der hiesigen Hartz-IV-Empfänger aus, kommen aber in der Arbeitslosenstatistik meist nicht vor, weil sie einer Beschäftigung nachgehen.
Wenn Hartz-IV-Empfänger einen Mini-Job haben, wird ein Einkommen bis 100 Euro monatlich nicht auf die staatliche Hilfe angerechnet. Die Hälfte der »Aufstocker« verdient bis zu 400 Euro hinzu, von denen laut Gesetz 20 Prozent unangetastet bleiben.

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Nicht viel in der Tasche: Hartz-IV-Empfänger bekommen neben der Miete monatlich derzeit 359 Euro ausbezahlt.

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Veröffentlicht in Achern

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